Nachfolgend finden Sie inspirierende und berührende Texte, Geschichten und Lebensweisheiten, welche zum Nachdenken und Innehalten einladen sollen.
Das Tränenkrüglein
Es waren einmal ein Mann und eine Frau, und sie hatten sich von ganzem Herzen lieb, und der eine konnte nicht ohne den anderen sein. Da kam plötzlich eine große Krankheit, die wütete unter allen Menschen und erfasste auch jene Frau, dass sie auf ihr Lager sank und zum Tod erkrankte. Drei Tage und drei Nächte wachte, weinte und betete der Mann bei seiner geliebten Frau, aber sie starb. Da erfasste den Mann, der nun allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger und namenloser Schmerz, und er aß nicht und weinte, weinte wieder drei Tage lang und drei Nächte lang ohne aufzuhören und rief nach seiner Frau. Wie er nun so voll tiefen Leides in der dritten Nacht saß an der Stelle, wo seine Frau gestorben war, tränenmüde und schmerzensmatt bis zur Ohnmacht, da ging leise die Tür auf, und der Mann erschrak, denn vor ihm stand seine verstorbene Frau, in den Händen hielt sie ein Krüglein. Sie sah erlöst von allem Leid aus, und sie wandte sich ihm liebevoll zu und sagte: Hier, in diesem Krug, sind alle deine Tränen, die du um mich geweint hast. Ich habe sie alle gesammelt, als Zeichen, dass du auch jetzt mit mir verbunden bist. Der Krug ist nun voll. Du brauchst nicht mehr zu weinen.
Aus: Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch.
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Das Zwillingpärchen
Ein ungeborenes Zwillingspärchen unterhält sich im Bauch seiner Mutter.
"Sag mal, glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?" fragt der eine Zwilling.
„Ja auf jeden Fall! Hier drinnen wachsen wir und werden stark für das was draußen kommen wird." antwortet der andere Zwilling.
„Ich glaube, das ist Blödsinn!" sagt der erste. "Es kann kein Leben nach der Geburt geben – wie sollte das denn bitteschön aussehen?
„So ganz genau weiß ich das auch nicht. Aber es wird sicher viel heller als hier sein. Und vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen?“
„So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört! Mit dem Mund essen, was für eine verrückte Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns ernährt. Und wie willst du herumlaufen?
Dafür ist die Nabelschnur viel zu kurz.“
„Doch, es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen anders.“
„Du spinnst! Es ist noch nie einer zurückgekommen von „nach der Geburt“. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Punktum.“
„Ich gebe ja zu, dass keiner weiß, wie das Leben nach der Geburt aussehen wird. Aber ich weiß, dass wir dann unsere Mutter sehen werden und sie wird
für uns sorgen.
„Mutter??? Du glaubst doch wohl nicht an eine Mutter? Wo ist sie denn bitte?"
"Na hier – überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und durch sie. Ohne sie könnten wir gar nicht sein!
„Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt, also gibt es sie auch nicht.
„Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen hören. Oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt...."
Geschichte nach Henri Nouwen
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte in meinen Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben –
Und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
Er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, -
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mein Engel mich nicht mehr bewacht.
Rainer Maria Rilke
Der Tod der Geliebten
Er wußte nur vom Tod was alle wissen:
daß er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,
hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, daß sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:
da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden
und glaubte nicht und nannte jenes Land
gutgelegene, das immersüße -.
Und tastete es ab für ihre Füße.
Rainer Maria Rilke
Das Tröpflein wird das Meer
Wenn es ins Meer gekommen
Die Seele Gott, wenn Sie in Gott aufgenommen
Die Gottheit ist ein Brunn
Aus ihr kommt alles her,
und läuft auch wieder hin
Drum ist sie auch ein Meer
Halt an, wo läufst du hin?
Der Himmel ist in dir
Suchst du Gott anderswo
Du fehlst in für und für
Hier fliess ich noch
In Gott als Bach der Zeit
Dort bin ich selbst das Meer
Der ewigen Seligkeit
Angelus Silesius